Auf den Wellen vor dem Strand von Tel Aviv war Surfen schon immer erlaubt. Seit September gilt die Allgemeine Surf-Freiheit in der ganzen Stadt. Der Oberbürgermeister stellte auf dem Rothschild-Boulevard die neue Attraktion vor. Überall in der Stadt gilt freie Fahrt – nicht auf dem Surfbrett, sondern auf dem Notebook, dem Tablet oder den Internet-Apps unserer Smartphones. Da lohnt es nicht mehr, hinauf nach Jerusalem zu fahren oder herunter zum Toten Meer und weiter nach Eilat. Günstiger ist es, sich gleich nach dem Anflug am Hayarkon-Park der 24-Stunden-Stadt niederzulassen und sich die mühselige Rundfahrt auf das Display downzuladen, die Urlaubs-Mails an die Lieben daheim zu senden und die App mit den Börsenkursen anzuticken.
Exakt dazu erreicht uns die zweite Nachricht, dass der verehrten Internetkundschaft neben den 60 neuen Hot-Spots auch eine völlig kostenfreie Aufzeichnung der Datenflüsse mitgeliefert wird. Speichern überflüssig! Das erledigt diskret der Geheimdienst!
Natürlich weiß niemand so ganz genau, was an diesen Gerüchten dran ist. Da lanciert dieser Whistleblower, na, sagen wir Lümmel Edward Snowden aus Moskau oder Sibirien alle Nase lang immer neue Geschichten, die doch streng geheim und deshalb nicht überprüfbar sind. Fest zu stehen scheint, dass es innerhalb der „United States of America“ (USA) einen geheimen Staat im Staate gibt, dessen Verfassung aus einem Buch mit dem Titel „Brave New World“ abgeschrieben ist und in Kundschafterkreisen gemeinhin als NSA, die „New Secrets of America“, abgekürzelt wird.
Seit September wissen wir, dass auch die amerikanische Überseeprovinz Israel schon 2009 dieser NSA-Konvention beigetreten ist. Niemand weiß, ob die Strippen noch von Olmert und Bush oder schon von Netanjahu und Obama gezogen wurden oder ob sie alle von nichts wussten. Seither erhält Israel jedenfalls aus seinem Mutterland Mitschnitte aller Telefonate und den Wortlaut aller Mails und SMS, die von hüben nach drüben wechseln. Ungefiltert wird der kälteste Kaffee geliefert, aber manchmal schwimmt darin ein bedenklich heißes Wort. Islam etwa oder Mist oder gleich beides zusammen.
Berichtet wird von Datenaustausch. Von den NSA-Filialen in Israel (ISNU = israelisch, sicher nicht unamerikanisch) kommen also ganz ähnlich abgefüllte Netze an die Zentrale nach Fort Meade, Maryland, zurück. Aber da weiß man wirklich nichts genaues, weil in Israel alles noch viel geheimer ist als in Amerika. Sogar die Dementis dementieren nichts.
Tel Aviv hat die richtigen Konsequenzen gezogen. Wenn es schon eine flächendeckende Überwachung des weltweiten Datenverkehr durch die Geheimdienste gibt, dann kann, nein, dann muss man das einfach nutzen. Das beginnt keineswegs damit, dass eine Großstadt kostenfreies Internet für alle anbietet. Welches Kind wird nicht schon im Mutterleib per Ultraschall abgefilmt? Die noch unbeschnittenen Daten werden von glücklichen Eltern auf der Homepage präsentiert oder der Oma in Alaska zugemailt. Denn Daten von US-Bürgern werden keineswegs ausgefiltert – wäre ja auch noch schöner. Dort sollen mehr luden als in Israel leben.
Vielleicht werden die ersten Lebenszeichen samt zugehöriger Werbe-Adresse auch von der Hebamme an eine Windel-Firma verscherbelt. Damit sind die lieben Kleinen schon pränatal bei NSA und ISNU auf dem Rechner. Das Geniale ist, dass die unermessliche Datenbank kaum in Erscheinung tritt. Die hausgemachten Textchen, Bildchen und Filmchen sammeln Pappa und Mamma, der Kindergarten, die Schule. Später speichern für uns das Facebook, der Google-Mogul, die Stadtverwaltung, die Arztpraxis, das Reisebüro, die Bank, der Online-Laden von Amazon, die peinlichen Seiten, die wir niemals gesehen haben wollen, die Tankstelle, die Hochschule, das Arbeitsamt, die Firma, die Ehepartner und Geliebten.
Das alles sind vertrauenswürdige Menschen und Institutionen, denen wir uns, unsere Kinder und unsere Konsumgewohnheiten anvertrauen. Wir haben schließlich nichts zu verbergen. Das Leben hinterlässt einen riesigen Mischmasch von Daten.
Der Computer im Schuhgeschäft benötigt nur Namen, Adressen, Bankverbindungen und Schuhgrößen. Der Geldautomat nur die PIN-Nummer. Pfiff bekommt die Sache, wenn alle Daten in einem Speicher zusammen fließen: Da kann vermeintlich niemand mehr persönlich herumwühlen und unsere Milliarden Mails lesen. Vielleicht spricht man deshalb von Geheimdienst; der sichert Anonymität pur und Datenschutz at it’s best, könnte man meinen. Nur: Wenn man dann doch mal 1 und 1 zusammenzählt, kommt aus dem Lehm ein Mensch wie du und ich:
Alle Dateien, die die IP-Nummer meines Computers tragen? Alle, die meine Reisen aufzeichnen? Alle, die ich verschlüsselt habe? Alle, die auf meine Zahlungsprobleme hindeuten? Alle, die harmlose oder doch auffällige Kontakte mit Menschen belegen, die unter Verdacht stehen?
Die Polizeistation nebenan, die einen Plattfuß mit Größe 45 sucht, würde sofort von meiner Unschuld überzeugt sein, wenn die Geheimdienste zur Entlastung aller Tippelbrüder mit Größe 43 genutzt würden. Aber die Polizei fragt den Geheimdienst nicht.
Das wäre nicht nur in Tel Aviv ein echter neuer Service. Wir brauchen nicht nur die Einladung zum kostenfreien Surfen und Ausgespäht-Werden. Der demokratische Dreh wäre der öffentliche Zugang zu den Datenschätzen der Geheimdienste. Also eine Abschaffung derselben.
Das würde ein Surfen im Pool der Erinnerung ermöglichen. Wir könnten nachfragen, wann wir geheiratet haben oder wie unser Traum-Hotel hieß. Die erste Mail könnten wir uns nochmals ausdrucken lassen und uns nochmals am Preisverfall der Telefonrechnungen erfreuen.
Wir, die nichts zu verbergen haben, erwarten, dass NSA und ISNU ihrerseits uns nicht vorenthalten. Ein besseres Gedächtnis können wir uns kaum leisten.
Gustav Goy
(Beitrag aus der JüdischenZeitung vom Oktober 2013, Nr. 92, herzlichen Dank ‘gk’ )